Vortrag von Michael Lüthy: Die Institution der documenta und die Idee der Kunstautonomie
Michael Lüthy, 2021
Die Zunahme politischer und gesellschaftlicher Spannungen ergreift auch die Kulturinstitutionen. Sie sehen sich unter Druck, Position zu beziehen. Dabei scheint es nur zwei Alternativen zu geben: eine institutionelle Politik, die sich aktionistischen Agenden öffnet oder sich selbst zum Akteur dieser Agenden macht; oder eine bewusste Entpolitisierung, die sich auf die ästhetische Kernaufgabe besinnen will. Das aber ist eine schiefe Alternative. Weder kann die Verschmelzung von Kunst und Politik im Zeichen des Aktionismus das Ziel sein, noch ein Freihalten institutioneller Räume von Politik. Es müsste um ein Drittes gehen: um ein Verständnis des anderen Politischen der Kunst.
Dieses andere Politische der Kunst hat einen traditionsreichen Namen: Kunstautonomie. Diese zielt – entgegen einem häufigen Missverständnis – nicht auf eine Freistellung der Kunst von Politik, sondern auf die Artikulation der eigenen Politizität der Kunst.
Die documenta ist in ihrer Genese eng mit dem Autonomiegedanken der Kunst verbunden. Doch auch sie ist in ihren letzten Ausgaben von einer umstrittenen Politisierung erfasst worden. Anhand der documenta fifteen (2022) will der Vortrag die damit eingehandelten Paradoxien aufzeigen und zugleich für eine Stärkung des Autonomiegedankens eintreten – als Garant für jenes andere Politische der Kunst.
Michael Lüthy ist Professor für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Nach dem Studium in Basel und Berlin promovierte er 2000 über Édouard Manet und habilitierte sich 2010 mit einer kunstästhetischen Schrift im Anschluss an Ludwig Wittgenstein. 2010-2014 war er Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der FU Berlin, 2014-2020 Professor für Geschichte und Theorie der Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar, 2020 wechselte er auf die jetzige Position in Stuttgart. Seine Lehre und Forschung situiert sich im Übergangsbereich zwischen Kunstgeschichte, Kunsttheorie und Ästhetik.