Beim Aufräumen kommt es bisweilen zu Überraschungen.
Doch Archivar*innen im documenta archiv lassen sich bekanntermaßen nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht von einer kryptisch beschrifteten Pappschachtel gefüllt mit braunen Häufchen.
 
Ein eben solcher Karton - ungewöhnlich schwer und mit der irreführenden Aufschrift "Star Wars" versehen - kam kürzlich auf dem Dachboden zum Vorschein. Der Inhalt: Zementfragmente und Scherben glasierter Kacheln mit fragwürdigem Design. Schon wenig später waren die Beweisstücke durch die zuständigen Ermittler*innen auf dem Tisch ausgebreitet und zusammengefügt. Die Fährte war aufgenommen, die Suche nach Verdächtigen konnte beginnen.  
 
Die Fingerabdrücke auf den verstaubten Hinterlassenschaften ließen sich nicht mehr forensisch auswerten, doch ein Blick ins Archiv brachte schnell Licht ins Dunkel. Die Spuren führen zu Jan Hoets documenta 9 und einem verdächtigen Künstler aus Belgien namens Wim Delvoye.
 
Dieser hatte 1992 das Motto der Ausstellung „Vom Körper zum Körper zu den Körpern“ als Steilvorlage genutzt, den Eingangsbereich der gerade eingeweihten documenta Halle mit einem blanken Fliesenmosaik zu bespielen: Halb begehbare Bodenskulptur (man denke an Carl Andre), halb dekorativer Fußboden aus Delfter Kacheln empfing damals ein mit Arabesken geschmückter Fliesenspiegel die Besucher*innen - und brachte wohl manch Unvorbereitete*n vor Überraschung ins Schleudern. Denn das prächtige Ornament entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Arrangement von - nun ja - verschieden geformten Stoffwechselprodukten. Nichts ist wie es scheint. Oder: Alles ist wie es scheint. Eine Frage des Standpunkts.
 
Nach Ende der Ausstellung wurde Delvoyes temporäre Intervention "Mosaic" (1990/1992) aus dem Ausstellungsraum entfernt und ein kleiner Teil der Relikte verwahrt.
 
Einige Jahre später entwickelte Wim Delvoye seine Auseinandersetzung mit dem Thema "Verdauung" noch einmal kunsttechnologisch weiter. Unter dem Werktitel "Cloaca" imitiert eine gemeinsam mit Wissenschaftlern entwickelte Maschine den Vorgang der Nahrungsaufnahme und enzymatischen Verarbeitung unter Laborbedingungen. Das Ergebnis auch hier: braune Häufchen - dem Original zum Verwechseln ähnlich - die mit steter Regelmäßigkeit den Trakt durchwandern und über ein Förderband vom Stapel laufen. In Plastik eingeschweißt werden sie schließlich dem Kunstmarkt zugeführt...
 
Und wieder einmal ist ein Fall gelöst.

Archiviert ist der Kachel-Fund übrigens als Sonderformat mit der Signatur docA, AA, d09, 224.