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Aktuell

Als Auftaktveranstaltung der Reihe „Revisitations“ freuen wir uns, Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13) und Mario García Torres zu einem gemeinsamen Gespräch im Fridericianum begrüßen zu können. 

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Vor 70 Jahren: Zur Eröffnung der ersten documenta 1955

16.7.2025

Kassel als Fixstern und Gravitationszentrum im Konzert der Hauptstädte, Metropolen und Kunstzentren Westeuropas; Faltblatt zur ersten documenta 1955, documenta archiv

Kassel vor 70 Jahren. Es ist der 14. Juli 1955, ein warmer Donnerstag. Im Fridericianum laufen die letzten Vorbereitungen. Als die Sonne bereits tief steht, rollt der letzte Transport aus der europäischen Kunsthauptstadt Paris an. Mit einem sogenannten Culemeyer – ein Spezialfahrzeug der Bundesbahn zum Straßen-Transport von Eisenbahnwaggons und Schwerlasten – wird die Fracht vom Hauptbahnhof direkt zum Treppenabsatz vor dem Portikus des Museum Fridericianum befördert. Das Aufbauteam entlädt die Lieferung im Wettlauf gegen eine aufziehende Wolkenfront. Im Inneren des provisorisch renovierten Ausstellungsbaus ist in den Tagen zuvor aus Leihgaben aus dem In- und Ausland eine Ausstellung entstanden, die in der Folge Kunstgeschichte schreiben sollte: die erste documenta.
 

Die Zeit verbleibende bis zur Eröffnung ist knapp bemessen: Am 15. Juli um 17 Uhr haben Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen (SPD) und die Trägergesellschaft „Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts e.V.“ um Arnold Bode sowie Vertreter aus Kultur und Politik zum Cocktail-Empfang ins Schlosshotel Wilhelmshöhe geladen. Im Anschluss folgt die Vorbesichtigung im Kreis der Leihgeber*innen und Künstler. Bis dahin müssen alle Bilder an ihren Nägeln hängen und alle Skulpturen auf den vorgesehenen Sockeln platziert sein.
 

Die feierliche Eröffnung der Ausstellung folgt am nächsten Vormittag, am Samstag, dem 16. Juli, um 11 Uhr. Die Festrede hält Hessens Kulturminister Arno Hennig (SPD). Er spricht im Malereisaal im Fridericianum vor einem bis zum letzten Platz mit Publikum gefüllten Saal. Die „Kulisse“ bildet Fritz Winters sechs Meter breite „Komposition vor Blau und Gelb“ (1955), die sich seit 2022 – als Sammlungswerk der Neuen Galerie – wieder in Kassel befindet.

 

 

Eröffnung der documenta, Besucherinnen und Besucher im Foyer des Fridericianum, © Stadtarchiv Kassel / Fotos: Carl Eberth

Beachtenswert ist hierbei auch, wer an diesem Vormittag nicht unter den Anwesenden in Kassel ist: Die namhaftesten und ranghöchsten politischen Vertreter auf der Gästeliste. Vizekanzler Franz Blücher (FDP), Außenminister Heinrich von Brentano (CDU), Innenminister Gerhard Schröder (CDU) und Bundesminister Jakob Kaiser (CDU) vom Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen zogen ihre Teilnahme kurzfristig zurück, um – zwei Monate nach dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik – im Bonner Bundestag das umstrittene Freiwilligengesetz zu verabschieden und damit die Neugründung der Bundeswehr zu beschließen. Der Schirmherr der Ausstellung, Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) holte seinen documenta Rundgang zehn Tage später nach.
 

Das zeitgeschichtliche und politische Momentum des Sommers 1955 war ein besonderes. Und wohl nirgends manifestiert sich in diesen Tagen der demokratische Geist des urbanistischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus in all seinen politischen Verflechtungen deutlicher, als im Zusammenspiel von documenta und Gartenschau inmitten der kriegszerstörten und neu entstehenden Stadt im sogenannten Zonenrandgebiet. Zwischen den floralen Attraktionen der Karlsaue und den Kunstwerken im Fridericianum formieren sich nicht nur soziale Räume der Begegnung und des Dialogs, sondern auch die Grundlagen für die Neu-Entstehung von Öffentlichkeit. Nicht umsonst bezeichnet der Ausstellungshistoriker Walter Grasskamp Jahrzehnte später die erste documenta (und ihre nachfolgenden Ausgaben) pointiert als „Bruchstuck der Kulturgeschichte der Bundesrepublik“.

Einlasskarte zur Eröffnungsfeier am 16. Juli um 11 Uhr, © documenta archiv

„Diese Ausstellung ist das Ereignis des Jahres“ schreibt der Kunstkritiker Will Grohmann einige Tage nach der Eröffnung im Berliner Tagesspiegel. So etwas habe man seit 1927, der „Internationalen“ in Dresden nicht mehr gesehen. Seine Verwunderung über das Gesehene und Erlebte jedoch kann Grohmann kaum zurückhalten: „Als Berliner fragt man sich, wieso ausgerechnet das kleine Kassel ein solches Unternehmen auf die Beine stellen kann.“
 

Bis zum Ende der Ausstellung am 18. September strömten fast 135.000 Besuchende an aufgereihten Zierpalmen vorbei ins Fridericianum und hinein in die größte Kunstschau nach 1945. Umweht vom Geruch der frisch produzierten Plastikvorhänge, der Heraklit-Platten und des gerade eingebrachten Betonfußbodens waren die wegweisenden Werke der Moderne für die meisten Besucher*innen nach den Jahren der NS-Diktatur und der Zerstörung erstmals (wieder) öffentlich zugänglich.
 

In besonders sprechender Weise bringt ein O-Ton aus einem Bericht der Frankfurter Hefte von 1955 die damaligen Eindrücke auf den Punkt:
 

„Das Wort ‚documenta‘ war in diesen Wochen ein Stichwort. ‚Waren sie schon in Kassel? Das müssen Sie gesehen haben!‘ Der Erfolg dieser Ausstellung ist sensationell. An einem einzigen Tage sind tausend Kataloge zu je 5 DM verkauft worden. Es kam vor, daß die Polizei das Haus wegen Überfüllung schließen musste. Alle Schätzungen der Besucherzahl wurden weit übertroffen. Nichts von der Abseitigkeit mancher Kunstereignisse, nichts Museales, nichts von der noblen Langeweile gewisser Bildungsveranstaltungen. Es ist etwas passiert im Fridericianum, es ist wirklich etwas passiert…“