Das docArt des Monats Dezember 2020 gibt eine Ausstellungsansicht der documenta 9 (1992) wieder, fotografiert von Renée Pötzscher (geb. 1945). Das Diapositiv wird in der fotografischen Sammlung des documenta archivs aufbewahrt und zeigt eine Installation des Künstlers Charles Ray (geb. 1953) im Museum Fridericianum. „Oh! Charley, Charley, Charley...“ ist eine Gruppenskulptur, bestehend aus acht lebensgroßen entkleideten Wachsfiguren in verschiedenen Posen. Die Figuren selbst tragen die Züge des Künstlers. Demnach darf das Werk als Hommage und Selbstorgie gleichermaßen gelten.

 

Angeregt wurde die Arbeit von der Skulptur „Der Kuss“ von Constantin Brâncuși (1876-1957), seines Zeichens Künstler der documenta 2 (1959) und documenta 3 (1964). Für Ray führt die Skulptur „Der Kuss“ auf eindrücklich geschmeidige Art vor, wie zwei Entitäten in körperlicher Vereinigung, im Akt des geschlechtlichen Verkehrs eins werden. Geformt aus einem Block, stellt sich Ray vor, dass die beiden Liebenden in diesem einzelnen Objekt aufgehen. Ihre gegenseitige Anziehung erzeugt eine ganz eigene primitive kosmische Einheit. Auch die Arbeit „Oh! Charley, Charley, Charley...“ ist von der Idee sexuellen Verlangens inspiriert, verkehrt aber Brâncușis kosmische Sexualität ins Gegenteil und enthüllt, dass der Liebhabende jeweils nur eine Projektion seiner selbst ist.

 

Der Geschlechtsakt wird zu einem Akt der Selbstliebe umgedeutet, der, so Rays Kommentar, wirken mag, als habe er alles von sich preisgegeben. Auf der anderen Seite verhindere die Multiplikation der Identität eine tatsächliche Enthüllung, der sexuelle Akt bleibe eine Masturbation, die Fantasien des Künstlers seien sicher in seiner Vorstellung eingeschlossen.

 

Nach all diesen Perspektivwechseln und Identitätsverschiebungen bleiben Fragen offen: Wer sind die „Anderen“, zählen diese „Anderen“ überhaupt – oder zirkludieren* wir uns am Ende alle nur immer wieder selbst?

 

Michael Gärtner

 

 

 

 

* Zirklusion: Bini Adamczak stellt in einem Artikel des Missy Magazine aus dem Jahr 2016 einen alternativen Begriff für Penetration vor, um damit ein neues Sprechen über Sex und Sexualität zu inspirieren. (Quelle: https://missy-magazine.de/blog/2016/03/08/come-on/)