Der französische Künstler Ben Vautier (geb. 1935) erstellte während der documenta 5 (1972) im Erdgeschoss des Fridericianums einen „Denkraum“, in dem er nicht nur seine Kunst ausstellte, sondern auch sich selbst. Der Konzeptkünstler schlief während der Ausstellung auf dem Podest, das sich in der Mitte des Raums befand, wenn er gerade keine Vorträge vor seinem Publikum hielt. Bei seinen Beiträgen im Fridericianum beschäftigte Vautier sich unter anderem mit der viel diskutierten Frage, was Kunst sei. Während sein großes Banner mit der Aufschrift „Kunst ist überflüssig“ auf dem Dach des Fridericianums das Stadtbild prägte, war im Inneren des Museums unter anderem Vautiers komplexere Aussage zu finden: „Kunst ist die Ausschöpfung aller Möglichkeiten“.

 

Für die Besucher*innen des Fridericianums stellte Vautier eine Art Gästebuch zur Verfügung und bot ihnen damit ein Medium zur Partizipation an. Die losen Zettel mit den Kommentaren der Besucher*innen füllen drei Mappen des documenta archivs und beim Sichten dieser wird schnell deutlich, dass ihnen nicht klar geworden ist, wie Kunst zu definieren sei. Die Frage wurde ihnen weder durch Vautiers Schriftentafeln zum Thema Kunst noch bei der documenta selbst beantwortet, sodass sie ihren Missmut in Vautiers Gästebuch zum Ausdruck brachten. Die Kommentare reichen von „Kunst ist immer elitär“ und „Kunst ist Ausdruck und Können“ zu „Kunst ist das Produkt fortgeschrittener Gehirnpest“ oder gar „Kunst ist… wenn man 21 Jahre mit einem Mann verheiratet bleibt“.

 

Geradezu jede Aussage, ganz unabhängig von der Ausgangssprache, wurde von anderen Besucher*innen kommentiert, ergänzt, meistens aber wurde widersprochen. Die Meinungen blieben gespalten und in dem Sammelsurium aus Zetteln wurden daher unzählige eigene Vermutungen aufgestellt, wie Kunst definiert werden kann. Jede*r hatte eine ganz individuelle Idee von Kunst und konnte sich mithilfe von Vautiers Gästebuch sogar selbst als Künstler*in offenbaren: Der Umriss einer Hand, in der ein Fragezeichen in der Mitte steht, wurde darunter mit den Worten kommentiert: „Das ist Kunst“.

 

Verzweifelt schrieb ein Besucher oder eine Besucherin in das Gästebuch, dass er oder sie bis heute nicht verstanden habe, „was Kunst ist“ und bekam darauf die Antwort eines anderen Besuchers oder einer anderen Besucherin, dass weder Dürer noch Beuys oder Picasso das jemals verstanden hätten.

 

Und die finale Antwort auf die Frage, was Kunst nun sei? – Sie bleibt ungeklärt.

 

Lena Voss