„Wer will Teil eines D-11-Kunstwerkes werden?“ Diesen Aufruf startete die documenta im Mai 2002 für die anstehende Ausstellung in der Presse. Als Belohnung für die Teilnahme an der Performance Untitled (Kassel), 2002 der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera (geb. 1968) erhielt jede*r Teilnehmer*in für zwei Stunden eine offizielle Documenta-11-Urkunde, für vier Stunden eine limitierte Edition von Lithografien und ab 20 Stunden eine Dauerkarte. Die Aktion erfreute sich eines guten Zulaufs. Bei der ersten Verleihung am 29. August wurden bereits über 100 Beteiligte mit einem Zertifikat ausgezeichnet.

 

Die Arbeit Untitled (Kassel), 2002, wurde in der ehemaligen Binding-Brauerei ausgestellt. Es handelte sich um eine Kombination aus Video, Installation und Performance. Die Besucher*innen betraten einen völlig abgedunkelten Raum und wurden plötzlich von einer halbhohen Wand aus mit Strahlern geblendet. Gleißende Lichtblitze durchzuckten das Dunkel. Durch den kurzfristigen Verlust des Gesichtssinns nahmen die Besucher*innen die bedrohlichen militärischen Geräusche um sie herum noch intensiver wahr: schwere Schritte mit Stiefeln und das Klicken von Gewehren. Erst allmählich konnten die Besucher*innen die Geräusche verorten und die Augen gewöhnten sich teilweise an das Gegenlicht, sodass die Gesamtsituation besser erfasst werden konnte. Zwei Performer*innen marschierte auf einem erhöhten Laufsteg und luden ständig ihre Waffen durch. Plötzlich setzten Licht und Geräusche aus. An eine Wand wurden 100 Ländernamen mit Jahreszahlen projiziert, die an Kriege, Diktaturen, politische Unterdrückung und Verfolgung erinnern sollten. Um die Performance in Gänze zu erfassen, mussten sich die Besucher*innen für längere Zeit dieser beängstigenden Situation aussetzen.

 

Brugueras Absicht war es, die Erfahrung von staatlicher Gewalt eindrücklich nachfühlbar zu gestalten. Bei den Besucher*innen sollte ein Gefühl von Bedrängung und Kontrollverlust entstehen, als ob sie von den unsichtbaren Performer*innen ins Visier genommen würden, sodass sie sich ihrer Verletzlichkeit bewusst würden. Sie verstand das Kunstwerk als einen Kommentar zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und zu Kassels Geschichte als Standort der Rüstungsindustrie. Durch das Einblenden der Ländernamen und Jahreszahlen sollte die allgemeine Aussage mit dem Konkreten überdeckt werden.

 

Brugueras Werk hatte bereits in seiner frühen Phase auf Kuba immer eine politische Dimension. In drastischen Performances behandelt sie die Armut ihres Landes und die Gewalt des Regimes. Sie arbeitet oft mit ungewöhnlichen Materialien, die symbolisch aufgeladen sind und ritualhaften Handlungen. Mit ihrer Arbeitsweise möchte sie körperliche und soziale Verhaltensweisen hinterfragen, und durch verschiedenste Sinneserfahrungen den Besucher*innen eine aktive Wahrnehmung verschaffen, die sich stark in deren Erinnerung verankert.

 

Das documenta archiv konnte Ende 2019 eine der besagten Editionen erwerben. Es handelt sich um eine Serie von sechs Lithografien von Vorstudien. Das ausgewählte Blatt zeigt eine rechteckige Installationsaufsicht. Den Rahmen bildet ein heller u-förmiger Laufsteg, auf dem zwei Schatten zu sehen sind. An seiner Innenseite sind skizzenhaft Lampen zu erkennen, die zwei Drittel des Inneren hell erleuchten, während die linke Seite im Dunkeln liegt. An der rechten kurzen Seite führt ein dunkler Trichter in den Raum hinein. Die untere lange Seite ist offen. Die übrigen Blätter zeigen Skizzen der Installation und Performer*innen aus anderen Perspektiven, eine Liste mit Ländernamen und Jahreszahlen, die in Flammen zu stehen scheint, sowie eine abstrakte Grafik. Alle Blätter sind am unteren Rand handschriftlich mit Bleistift betitelt und signiert.

 

Das speziell für die documenta 11 entwickelte Werk Untitled (Kassel), 2002, ging anschließend in die Sammlung des Museums für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt über. Das documenta archiv freut sich, ergänzend zu den bereits in Aktenarchiv und Mediensammlung vorhandenen Materialien, mit den sechs Lithografien einen weiteren Aspekt dieser Arbeit in seinen Beständen dokumentieren und für die Öffentlichkeit zugänglich machen zu können.

 

Saskia Mattern