#38 „Mist abladen – Wie lange wollt ihr euch noch frozzeln lassen?“ Eine Protestaktion während der documenta 5
Rechnung des Magistrats der Stadt Kassel über 37 DM, 30 Pf für die Beseitigung von Unrat am Fridericianum, 24.7.1972, Signatur: documenta archiv, AA, d05, Mappe 142, fol.4
Immer wieder kommt es während der documenta Ausstellungen zu Begleitveranstaltungen oder gar Protestaktionen. So auch während der fünften documenta, die Harald Szeemann (1933-2005) 1972 kuratierte. Sein Konzept unter dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ stieß damals bei vielen auf Unverständnis. Ihm ging es nicht mehr allein um die „hohe Kunst“, sondern um die ganze Bandbreite verschiedener Bildwelten, die sich in dem Nebeneinander von „High“ und „Low“ zusammensetzten. „Individuellen Mythologien“ von Künstlerinnen und Künstlern wurden sogenannten „Parallelen Bildwelten“ gegenübergestellt, so etwa Werke der Frömmigkeit, politische Propaganda, Kitsch, Werbung und Warenästhetik oder die „Bildnerei der Geisteskranken“ – eine Überforderung für viele der damaligen Besucherinnen und Besucher, die nun selbst beurteilen sollten, was Kunst ist und was nicht.
Das rief natürlich Gegner auf den Plan. Eine der heftigsten Reaktionen erfolgte durch Thies Christophersen (1918-1997), einen Landwirt, Publizisten und Verleger aus Schleswig-Holstein. Als Holocaust-Leugner gehörte er zu den zentralen Akteuren in Kreisen der Neo- und Altnazis, hatte sich in einer Gruppe organisiert, die sich „Die Bauernschaft für Recht und Gerechtigkeit“ nannte und führte mit Gesinnungsgenossen etliche öffentlichkeitswirksame Aktionen durch.
Um gegen die documenta zu protestieren, war er mit einem Traktor mit Anhänger, den er sich in Hannoversch Münden gemietet hatte, in der Nacht vom 22. Juli 1972 vor das Museum Fridericianum gefahren, um zwei Haufen Mist abzuladen, was der Nachtwächter um 5.13 Uhr der Polizei meldete. An den Misthaufen wurden zwei Transparente mit folgender Aufschrift aufgestellt:
„Wie man die edle Kunst verhöhnt,
indem die Schönheit man verpönt.
Den Ekel selbst zur Kunst erklärt,
die Documenta hats gelehrt
Den, der darum sich empört,
daß hier Mist nicht hergehört
sagen wir, daß noch mehr Mist
in der Documenta ist.
Die Bauernschaft“
Neben diesen Transparenten hetzten Christophersen und seine Mitstreiter auch in Broschüren und Flugblättern mit ähnlichen Parolen gegen die documenta.
Die Polizei reagierte sofort und ließ den Mist bereits nach drei Stunden abtransportieren. Ordnungsgemäß stellte die Stadt Kassel Thies Christophersen zwei Tage später die Beseitigung in Rechnung. 37 DM, 30 Pf waren zu zahlen. Ein kleiner Presseartikel vom 25. Juli berichtete: „Damit kommt Christophersen billig weg. Die skandinavische Künstlergruppe der Situationisten soll für das Abräumen ihres Anti-documenta-Objekts aus Bauholz und Schrott vor dem Fridericianum immerhin 596 Mark zahlen.“ Christophersen und sein Anwalt Manfred Roeder protestierten, denn sie sahen ihre Aktion als Beitrag zur documenta, die in Form und Charakter den Ausdrucksmitteln der Ausstellung entspräche. Die Auseinandersetzung ging so weit, dass schließlich am 10. August bei der Staatsanwaltschaft Kassel „wegen groben Unfugs“ gegen Christophersen und Roeder ein Strafverfahren eingeleitet wurde.
Birgit Jooss

Rechnung des Magistrats der Stadt Kassel über 37 DM, 30 Pf für die Beseitigung von Unrat am Fridericianum, 24.7.1972, Signatur: documenta archiv, AA, d05, Mappe 142, fol.4

Rückseite der Rechnung des Magistrats der Stadt Kassel über 37 DM, 30 Pf für die Beseitigung von Unrat am Fridericianum, 24.7.1972, Signatur: documenta archiv, AA, d05, Mappe 142, fol.4